Meinung
23.01.2018

Während Deutschland schlief

Helmut Anheier kommentiert die Regierungsbildung auf Project Syndicate.

Wenige Menschen außerhalb Deutschlands wissen um die Karikatur, die in den Köpfen vieler Deutscher über sie selbst existiert. Dabei handelt es sich keineswegs um den aggressiven Machtmenschen aus der Kriegspropaganda des 20. Jahrhunderts, den perfektionistischen Ingenieur aus der Autowerbung der Madison Avenue oder den sich stets an die Regeln haltenden Besserwisser von der Leinwand, sondern vielmehr um eine verschlafene Gestalt in Nachthemd und Zipfelmütze. Manchmal eine Kerze in Händen haltend, vermittelt dieser Deutsche das Bild einer naiven, verlorenen Gestalt, verwirrt durch die Welt, die sie umgibt.

Diese Figur ist nicht neu. Im Gegenteil: im 19. Jahrhundert wurde sie weithin als „deutscher Michel“ bekannt, als jemand, dessen begrenzte Perspektive ihn dazu bringt, großen Ideen aus dem Weg zu gehen, Veränderungen zu meiden und nichts weiter zu wollen, als ein anständiges, ruhiges und bequemes Leben.

Doch derzeit feiert der Michel ein Comeback. Und wer kann es ihm verdenken? Die Wirtschaft in Deutschland boomt, es herrscht beinahe Vollbeschäftigung, die Löhne steigen und die Gewerkschaften sind zufrieden. Die Finanzkrise ist längst vergessen, öffentliche Haushalte befinden sich unter Kontrolle und der Zustrom der Migranten im Jahr 2015 wurde relativ gut bewältigt.

Was es an schlechten Nachrichten gibt – Industrieskandale (wie der bei Volkswagen), Fluglinien-Insolvenzen, endlos verzögerte Infrastrukturprojekte – dämpft das allgemeine Gefühl der Sicherheit und des Wohlbefindens der deutschen Michel nur in geringem Maße. Die einzig wirkliche Bedrohung, so scheint es, ist die Welt jenseits der Grenzen Deutschlands.

In dieser Hinsicht war der Wahlkampf im letzten Herbst perfekt auf die deutschen Michel abgestimmt. „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben,” lautete der Wahlkampfslogan der Christlich Demokratischen Union (CDU) unter Kanzlerin Angela Merkel und er fand ebenso Anklang wie die ziemlich provinziellen und weitgehend inhaltsleeren Botschaften der anderen Parteien. Mit Ausnahme der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) legten die Parteien phrasenhafte Verbindlichkeit und eine schlaftrunkene Akzeptanz des die Wählerschaft beruhigenden Konsenses an den Tag.

Echte politische Geschäftigkeit setzte nach der Wahl ein, aber sogar zu diesem Zeitpunkt gab man sich alle Mühe, diese Aktivitäten vor den Micheln Deutschlands zu verbergen. Obwohl sich die Parteifunktionäre seit geraumer Zeit positioniert hatten, warteten sie, bis die Stimmen abgegeben waren, bevor sie ihre Karten auf den Tisch legten, wobei selbst das hinter verschlossenen Türen geschah. Sogar die Inhalte, die von diesen Koalitionsgesprächen im Hinterzimmer nach außen drangen, waren so gut gesteuert, dass sie die Illusion aufkommen ließen, die Sondierungsgespräche wären politisch eher harmlos.

Doch ebenso wie die gewöhnlichen Michel verschließt sich auch Deutschlands politische Klasse den Tatsachen. Die einschläfernden Bundestagswahlen, das Scheitern der Koalitionsgespräche zwischen CDU, ihrer bayerischen Schwesterpartei, der Christlich-Sozialen Union (CSU), den Grünen und den Freien Demokraten (FDP) und auch der anschließende zaghafte Tanz zwischen CDU und Sozialdemokratischer Partei (SPD) weisen auf ein gravierendes Defizit in der deutschen Politik hin.

Die Wahrheit ist, dass die verschiedenen Parteiprogramme, die eigentlich die Wählerschaft informieren und eine Grundlage für Koalitionsgespräche bilden sollen, eine schockierende Phantasielosigkeit und einen Mangel an neuen Ideen offenbaren. Themen von zweitrangiger Bedeutung werden als rote Linien präsentiert, wobei weitgehend technische Fragen in den Mittelpunkt rücken – wie beispielsweise die Familienzusammenführung bei Flüchtlingen, eine Bürgerversicherung, die niemand gefordert hat, (oder das Aufweichen des Kooperationsverbots in der Bildungspolitik.

In Anbetracht der Lage Europas und der Welt – und der Erwartungen, die viele Partner an Deutschland haben – erscheinen diese Themen eher von marginaler Bedeutung. Das wahre Problem besteht darin, dass sie von größeren Themen im Zusammenhang etwa mit Euro, Sicherheit und Verteidigung, Migration, Infrastruktur und Besteuerung ablenken.

In Ermangelung irgendeiner zukunftsorientierten politischen Vision ist die deutsche Politik zu taktischen Spielen etablierter politischer Akteure verkommen. Die CDU, die sich in einem Rosenkrieg mit der CSU befindet, kann weder mit noch ohne Merkel leben, während sich die SPD ihrer selbst nicht sicher ist und den fortgesetzten politischen Niedergang fürchtet. Das alles verheißt nichts Gutes für ein Land, dessen Parlament bereits geschwächt ist, nachdem diese drei Parteien während der acht Jahre, in denen sie eine Koalitionsregierung bildeten, die Opposition an den Rand drängten und es auch versäumten, neue Führungskräfte aufzubauen.

In Deutschland waren Koalitionsvereinbarungen schon immer aufwändige Dokumente quasi-vertraglicher Natur. Doch es besteht zunehmend die Tendenz, vier Regierungsjahre durchzuplanen und die Legislaturperiode nicht für Debatten, sondern für die Umsetzung zuvor vereinbarter politischer Strategien zu nutzen.

Außerdem wurde in Deutschland seit den 2000er Jahren, als Kanzler Gerhard Schröder Arbeitsmarktreformen durchsetzte, kein größeres Reformwerk mehr erfolgreich umgesetzt. Unter Merkel wurde im Laufe von mehr als einem Jahrzehnt nicht einmal der Versuch unternommen, zukunftsweisende Reformen in der Dimension von Schröders Agenda 2010 in Angriff zu nehmen.

CDU/CSU und SPD streben nun eine große Koalition an, die Deutschland ungefähr auf dem Kurs der letzten acht Jahre halten würde. Die 28 Seiten umfassende Vereinbarung, die eine Fortführung formeller Koalitionsgespräche ermöglicht, ist übermäßig detailliert, technokratisch, wenig ambitioniert und es fehlt auch an Weitsicht.

Daher kommt es nicht überraschend, dass viele, insbesondere in der SPD, mit dem Ergebnis nicht glücklich sind und von mancher Seite Neuverhandlungen gefordert werden, obwohl die Verhandler von CDU/CSU und SPD die Vereinbarung als Durchbruch feierten. Nun steht die SPD vor der Wahl: bei ihrem Sonderparteitag am Wochenende muss die Führung entscheiden, ob man erneut in eine große Koalitionsregierung eintritt und womöglich alles weitergeht wie gehabt, oder ob man sich in Opposition begibt und damit wahrscheinlich Neuwahlen auslöst.

Es gibt allerdings noch eine weitere Lösung, die von vielen außer Acht gelassen wird: eine CDU-geführte Minderheitsregierung mit Merkel als Kanzlerin. Befreit von einengenden Koalitionsvereinbarungen mit einer widerwilligen SPD oder einer kalt kalkulierenden FDP könnte sich Merkel dann ihr Kabinett auf Grundlage von Kompetenz und Vision und nicht auf Basis der Parteipolitik aussuchen. Sie könnte sogar Minister aus anderen Parteien ernennen.

Am bedeutsamsten wäre, dass Merkel endlich wichtige Themen in Angriff nehmen könnte, die in den letzten Jahren auf der Strecke geblieben sind und die auch im aktuellen Koalitionsabkommen lediglich Lippenbekenntnisse blieben. Dazu zählt die Zusammenarbeit mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, um das europäische Projekt voranzubringen; die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung; die Digitalisierung der Arbeitswelt und die Behandlung des Migrationsthemas.

Um an diesen Fronten erfolgreich zu sein, ist das Parlament von entscheidender Bedeutung. Anstatt sich auf politische Taktik zu konzentrieren, müssen die Parteien des Mainstream jene Art der offenen und konstruktiven Debatte führen, wie sie die parlamentarische Demokratie in den frühen Jahren der Bundesrepublik beförderte.

Der Michel bevorzugt möglicherweise maßvolle politische Initiativen und Inkrementalismus, wie sie Merkels Amtszeiten als Kanzlerin prägten. Eine Minderheitsregierung jedoch, die gezwungen ist, Koalitionen der Willigen zu bilden, um entscheidende Themen für Deutschland und Europa in Angriff zu nehmen, könnte sich den Beschränkungen durch Michels Erwartungen entziehen, die deutsche Politik von Parteitaktikern befreien und echte, dringend notwendige Reformen ermöglichen. Mit anderen Worten: dieses Quäntchen politischer Unsicherheit, vor dem Deutschland heute steht, könnte genau das sein, was das Land braucht, um neuen Ideen und Stimmen und einer besseren Zukunft zum Durchbruch zu verhelfen.

Lesen Sie den Kommentar auf Englisch bei Project Syndicate.

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