Meinung
04.11.2016

Europa trägt eine Mitverantwortung

In der Türkei müssen wieder Menschenrechte und der Rechtsstaat beachtet werden, findet Başak Çalı.

Die EU muss darauf dringen, dass in der Türkei wieder Menschenrechte und der Rechtsstaat beachtet werden. Denn die Richter machen dort nur noch, was die Regierung sagt.

Wenn ich heute gefragt würde welches Ereignis für ein Land schlimmer sein könnte als ein Militärputsch, wüsste ich eine Antwort. Ein Militärputsch, der ausgerechnet während einer Krise des Rechtsstaats und der Menschenrechte in diesem Land stattfindet. Genau das ist im Fall der Türkei eingetreten.

Schon seit Jahren befindet sich die Türkei in der Krise des Rechtsstaats und der Menschenrechte – also in einer Situation, in der eine systematische Verschlechterung bei der Einhaltung dieser Prinzipien zu beobachten ist. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Versammlungsfreiheit sind in den letzten zehn Jahren stark eingeschränkt worden. Eine scharfe Trennlinie wurde gezogen zwischen dem, was gesagt werden darf und was nicht gesagt werden darf. Im gleichen Maße sind Freiräume für soziale, kulturelle und politische Vielfalt geschrumpft. Für all jene, die sich aus Sicht der seit vierzehn Jahren von der AKP geführten Regierung auf der falschen Seite befinden, ist Vorsicht geboten. Das können Umweltaktivisten sein, die gegen Mega-Entwicklungsprojekte protestieren, Künstler, Gymnasiasten, Minenarbeiter oder sogar pensionierte Lehrer, die sich auf Facebook umschauen. Für all jene, die bei einem beliebigen Thema vom offiziellen Regierungsdiskurs abweichen, ist dies mit dem Risiko der unbarmherzigen und oft willkürlichen Anwendung des Strafrechts in Form von Verfolgung, Festnahmen und Untersuchungshaft verbunden. Im Südosten des Landes kann das tödlich sein. Zivilisten, die zwischen Regierung und PKK festsitzen, sind ständiger Lebensgefahr und extremer Gewalt ausgesetzt, und es besteht kaum eine Chance, dass hierfür jemand zur Verantwortung gezogen wird.

Der lange Sommer des Jahres 2016, der im Juli mit dem (dankenswerterweise gescheiterten) Versuch eines Staatsstreiches und der Verhängung des Ausnahmezustandes begann, war bislang der Höhepunkt all dessen. Es könnte nicht schlimmer sein. Die Türkei – ein Land, das sich ohnehin mitten in einer Krise der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit befindet – wurde durch einen blutigen militärischen Putschversuch erschüttert, durchgeführt von einem finanziell gut ausgestatteten Netzwerk, das einst der Regierung sehr nahe stand (und das zumindest in der Türkei nun offiziell als terroristische Organisation gilt). Es ist unbestreitbar, dass die Putschisten ein schweres Verbrechen begangen haben, indem sie die konstitutionelle Ordnung des Landes angegriffen haben. Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten – ob für oder gegen die Regierung – waren dankbar, dass sie scheiterten. Aber statt nach dem misslungenen Staatsstreich in stärkerem Maße auf die Achtung der Menschenrechte und die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu setzen, um den von einer korrupten und gewalttätigen Gruppe angerichteten Schaden wieder gutzumachen, hat sich die Regierung noch weiter von diesen Prinzipien abgewandt. Das Krisenregime wurde nach dem versuchten Staatsstreich zur normalen Regierungsform. Was hält dieses Regime in der Türkei aufrecht, während ringsum die Besorgnis wächst, dass es zu einem Dauerzustand werden könnte?

Erstens, je besser die AKP in Wahlen abschnitt, desto weniger war sie bereit, sich für die Achtung der Menschenrechte und die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien politisch einzusetzen. Die AKP hat Milletin Iradesi – den Willen der Nation – zum wichtigsten Leitmotiv der Regierungsarbeit erhoben. Das Recht hat der Umsetzung dieses Willens zu dienen statt diesem Willen Grenzen zu setzen, wie es bei auf Verfassung und garantierten Rechten basierenden Systemen normalerweise der Fall ist. Diese Sichtweise dominiert die AKP, sie will sogar das Verfassungssystem ändern, um wichtige Befugnisse beim Präsidenten zu konzentrieren, der von eben jenem “Willen der Nation” gewählt wurde. Kritik am herrschenden System und dessen Prioritäten und Präferenzen wird nicht länger als Ausdruck einer pluralistischen demokratischen Debatte gesehen, sondern als feindseliger Akt gegen den “Willen der Nation“. Der rasante Anstieg von Fällen strafrechtlicher Verfolgung aufgrund des Vorwurfs der Beleidigung des Präsidenten und die immer weiter wachsende Liste entlassener Journalisten und Akademiker sind seit langem ein Indiz hierfür. Der Putschversuch hat diese Situation noch verschlimmert. Die Vorwürfe, Putschverdächtige würden gefoltert und misshandelt, häufen sich. Unterstützern des versuchten Staatsstreichs vom 15. Juli wurde das Recht auf eine ordentliche Beerdigung verweigert, ein elementares Recht jeder Familie. Nun soll gar Todesstrafe wieder eingeführt werden: Trotz eines seit 1984 bestehenden Moratoriums und eines uneingeschränkten gesetzlichen Verbots im Jahre 2006 präsentiert Präsident Erdogan die Todesstrafe seit dem Coup als Wille des Volkes. Nun folgt die Festnahme der Parteivorsitzenden und Abgeordneten der HDP, der drittgrößten Partei des Landes, zeitgleich wurden die sozialen Medien vollständig geblockt oder verlangsamt.

Zweitens ist während der letzten Jahre ein signifikanter Verfall der Justizbehörden in der Türkei zu beobachten – und das trotz umfangreicher von Europäischer Union und Europäischem Rat geförderter Trainingsprogramme für die Richterschaft, die während der letzten beiden Jahrzehnte durchgeführt wurden. Richter in der Türkei fällen Urteile nicht mehr im Rahmen einer sachlichen institutionellen Anwendung der Gesetze – und die Türkei hat viele gute Gesetze, angefangen bei einer beeindruckenden Vielzahl verfassungsmäßiger Rechte, sondern auf der Grundlage einer persönlichen Risikoeinschätzung mit Blick auf das eigene Wohl und die eigene Karriere. In einigen autoritären Staaten wird dies “Telefonjustiz” genannt. Richterliche Entscheidungen werden nicht auf der Grundlage der Verfassung getroffen, sondern auf der der Grundlage der Telefonanrufe, die der Richter aus dem Machtapparat erhält. In der Türkei ist das Risiko, entlassen oder am beruflichen Fortkommen gehindert zu werden, derzeit so hoch, dass ein Telefonanruf vielleicht gar nicht mehr nötig ist. Von der Justiz wird erwartet, dass sie die politischen Präferenzen des Regimes unter allen Umständen widerspiegelt. Und das geschieht auch. Ohne institutionelle Absicherung machen Richter ihre eigenen Urteile zu ihrer persönlichen Versicherungspolice. Nicht einmal das Verfassungsgericht ist dagegen immun. Da die Türkei im europäischen Menschenrechtssystem integriert ist, wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte viele dieser Urteile zurückweisen. Allerdings wird dieses weitgehend auf der Vermutung von Treu und Glauben basierende System nicht in der Lage sein, die strukturellen Probleme und den Verfall der türkischen Justiz zu beheben. Noch kann es denjenigen helfen, die von willkürlicher Verfolgung akut betroffen sind.

Drittens findet die Menschenrechts- und Rechtsstaats-Krise der Türkei zu einem Zeitpunkt statt, zu dem der Schutz der Menschenrechte im Westen stark an politischer Unterstützung verloren hat. Der Anstieg flüchtlingsfeindlicher und rassistischer Gefühle und das Wiederauftauchen populistischer politischer Strömungen in Europa erlaubt es den Europäern nicht, eine starke gemeinsame, von Prinzipien geleitete Haltung gegenüber der Türkei einzunehmen. Im Gegenzug legt das herrschende Regime die europäische Kritik als Doppelmoral aus. Wer aus Europa heraus mahnend für Meinungsfreiheit eintritt, wird mit leichter Hand als türkeifeindlich, putschisten- oder terroristenfreundlich erklärt. Täglich titeln türkische Zeitungen mit den Worten “Und was ist mit…?”. Die Verlängerung des Ausnahmezustandes in Frankreich wurde oft als Argument dafür benutzt, dass die Türkei dasselbe tue, obwohl zwischen den in den beiden Ländern gegebenen Umständen große Unterschiede bestehen. Aus Sicht der Türkei, die mehr als drei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, fehlt Europa die moralische Berechtigung, sie hinsichtlich der Menschenrechte zu belehren. Schließlich ist die Anzahl der aufgenommenen Flüchtlinge in Europa vergleichsweise gering, und diejenigen, die dort Zuflucht fanden, wurden zunehmend ungnädig empfangen. Europas eigenes Vertrauen in die Menschenrechte ist daher ein wichtiger Punkt in dieser Auseinandersetzung. Europa trägt Mitverantwortung für die Situation in der Türkei und sollte mehr Verantwortung dafür übernehmen, die türkische Regierung auf den rechten Kurs zu bringen.

Dies ist die aktualisierte Version eines Gastbeitrags, der gestern (3.11.) auf ZEIT online erschienen ist.

Über die Autorin

  • Başak Çalı, Professor of International Law | Director, Centre for Fundamental Rights